Erlösung - Befreit von der Angst

Tilmann Haberer

"Herr Pfarrer, es war eine Erlösung für den Opa, daß er endlich sterben konnte." Solche Sätze habe ich in meinem Berufsalltag schon oft gehört. Da liegt jemand mit einem schweren Leiden darnieder, leidet schlimme Schmerzen, wird von Tag zu Tag weniger. Die Angehörigen leiden mit ihm, und auch wenn sie ihn oder sie nicht verlieren wollen, sind sie doch selbst wie erlöst, wenn der Tod kommt. "Es war eine Erlösung", dieser Satz sagt auch, daß es Schlimmeres gibt als den Tod, ja daß Erlösung vom Leiden manchmal eine Erlösung vom Leben bedeutet.

Die christliche Botschaft von der Erlösung wurde und wird oft so verstanden: Es geht um die Befreiung von den Leiden und Begrenzungen dieses irdischen Lebens im Tod. "Im Himmel" sind wir erlöst, wenn wir dieses irdische Jammertal hinter uns gelassen haben. Es ist ein großer Trost, wenn wir die Hoffnung und die Gewißheit haben können, daß uns jenseits der Todesschwelle die Erlösung zu einem neuen, heilen und guten Leben erwartet. Und doch ist Erlösung noch viel mehr. Im Alten Testament meint "Erlösung" etwas sehr Irdisches und zugleich Göttliches. Wenn im Alten Testament die Rede von Erlösung ist, geht es um die Befreiung des Volkes Israel. Im 2. Buch Mose wird berichtet, wie Gott Mose ankündigt, daß er das Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten befreien wird: "Und ich will euch wegführen von den Lasten, die euch die Ägypter auflegen,... und will euch erlösen mit ausgestrecktem Arm." Oder es geht um den "zweiten Exodus", die Befreiung aus dem babylonischen Exil. Besonders in Kapitel 40 bis 59 des Jesajabuches geht es um die Erlösung, die Gott mit seinem Volk vorhat, ja, die er schon bewirkt hat: "Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst..." (Jes 43,1). Auch wenn dieser Prophet in großartigen, geradezu endzeitlichen Bildern von der Erlösung spricht, geht es doch um eine Erlösung im Diesseits, um etwas sehr Irdisches.

Doch die Erlösung aus Babylon war nicht die große Befreiung des Volkes, die der Prophet angekündigt hatte. Israel war und blieb eine abhängige, tributpflichtige Provinz unter wechselnden Fremdherrschaften: zuerst herrschten die Perser, später die Nachfolger Alexanders des Großen und schließlich die Römer. Gerade die "Frommen", die versuchten, am Glauben der Väter festzuhalten und sich deswegen gegen die Religionsvermischung der hellenistischen und römischen Zeit wehrten, hatten unter den Besatzern zu leiden. Die Hoffnung auf Erlösung blieb lebendig. Doch mit der Zeit wurde immer deutlicher: Schon viele sind gestorben, die Gott mit ganzer Hingabe verehrt und ihm und seinen Geboten die Treue gehalten hatten. Und trotzdem war die Erlösung nicht gekommen. Israel war und blieb Besatzungszone. So entsteht mit der Zeit eine neue Hoffnung: Gott ist treu, und er ist so groß, daß der Tod seiner Treue keine Schranken auferlegen kann. Nachdem die Hingabe seiner Anhänger in diesem Leben nicht honoriert wurde, wird er sie nach dem Tod in einem zukünftigen Leben belohnen. So entsteht, etwa im Buch Daniel, die Vorstellung, daß die Gerechten nach dem Tod zum ewigen Leben erlöst werden (Dan 12,2).

Im Neuen Testament machen wir eine interessante Beobachtung: Im Mund Jesu kommt das Wort "Erlösung" nicht vor, außer an einer Stelle: Im Vaterunser. "Erlöse uns von dem Bösen." Und es entspricht ganz der Botschaft Jesu, daß er das Böse hier und jetzt meint. Für Jesus steht fest, daß es ein Leben nach dem Tod geben wird und daß Leid und Schmerzen dann geheilt sein werden. Aber er legt keinen großen Wert auf diesen Teil des Glaubens. Seine Botschaft wird in den Evangelien zusammengefaßt mit den Worten: "Das Reich Gottes ist in unmittelbare Nähe gerückt. Also kehrt um, ändert eure Einstellung, verlaßt euch auf diese gute Nachricht." (Markus 1,14+15).

Jesus hat keinen Erlösungsglauben gelehrt nach dem Motto: Seid hier brav, anständig und unauffällig, dann werdet ihr im Himmel belohnt. Das Jenseits steht für Jesus im Hintergrund. Es ist gut, sich darauf verlassen zu können, daß mein Leben nicht durch den Tod ausgelöscht wird, daß nichts vergeblich ist, was ich hier in diesem Leben tue und leide. Aber worauf es ihm viel mehr ankommt, ist die Erlösung von Ängsten und Zwängen, von Ausgrenzung und Egozentrik. In diesem Leben! Wer sich Gott anvertraut, wird erlöst von der Sorge um sich selbst. Er wird erlöst von dem Zwang, sich ständig abzusichern und seinem Leben selbst einen Sinn geben zu müssen. Er wird erlöst von dem Kreisen um sich selbst, der Angst, zu kurz zu kommen oder das Leben zu verfehlen.

Natürlich wird der Mensch immer wieder scheitern. Er wird in Ängste zurückfallen, wird um sich selbst kreisen, sich immer wieder in Egozentrik und Sorge verlieren. Wichtig ist: Die Erlösung, die Jesus gepredigt hat, darf nicht wieder ein neuer Anspruch werden: "Du mußt erlöst sein!" Ich kann mich öffnen für die Erlösung, die schon geschehen ist. Darauf liegt der Schwerpunkt bei Paulus. Auch wenn ich immer wieder scheitere, bin ich erlöst, und zwar durch den Tod Jesu am Kreuz (z.B. Gal 3,13 oder Eph 1,7). Hier kommt die Perspektive auf das Jenseits wieder ins Spiel: Gott wird mich nach meinem Tod nicht bestrafen, wenn ich mich an Jesus Christus halte und an das, was er durch sein Sterben und Auferstehen für mich getan hat.

Das hat natürlich wiederum Auswirkungen auf das Diesseits. Für Martin Luther bedeutete es die entscheidende, lebensrettende Erleichterung, als er erkannte, daß wir nicht durch unsere eigene Frömmigkeit Gott recht werden müssen, sondern daß durch Tod und Auferstehung Jesu Christi zwischen Gott und uns alles im Lot ist. Er konnte die Angst loslassen, die die mittelalterlichen Vorstellungen von Christus als dem unbarmherzigen Richter in ihm ausgelöst hatten. Er wurde frei, aus dem System von Angst, Zwang und dogmatischer Starre auszusteigen, und seine Wiederentdeckung der Freiheitsbotschaft des Paulus hat seitdem unzähligen Menschen Mut und Lebensfreude gegeben - für das Leben im Diesseits. Denn für das Jenseits ist gesorgt, wir brauchen uns darum keine Sorgen zu machen.

Diese Botschaft ist auch heute noch sehr aktuell. Wie groß die Angst der Menschen vor dem Sterben ist, sehen wir daran, wie der Tod aus unserem Leben verdrängt wird. So lange aber der Tod als die große Bedrohung erlebt wird, kann auch die Botschaft von der Erlösung hier und jetzt nicht oder nur sehr schwer gehört werden. Wer davon überzeugt ist, daß mit dem Tod "alles aus" ist, kann sich nur schwer auf die Botschaft einlassen, daß wir vor nichts und niemand Angst zu haben brauchen, daß wir es nicht nötig haben, unserem Leben selbst Sinn zu verleihen, weil es auch noch im Scheitern seinen Sinn hat.

Wenn ich erlöst bin aus der Angst um mein eigenes Leben, kann ich mich für meine Mitmenschen öffnen. Ich kann das Meine dazu tun, daß auch sie Befreiung und Erlösung erfahren. Aus der Bibel lernen wir, daß diese Befreiung etwas sehr Irdisches ist. Es geht um Befreiung und Erlösung von krankmachenden, versklavenden Strukturen, um die Erlösung der Gemeinschaft also. Und es geht darum, daß der und die einzelne in ein gutes und heiles Verhältnis kommt zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott.


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