Gebet: Mehr als nur Worte

Rainer Gollwitzer

Gebet, das ist Lob Gottes in höchsten Tönen oder zutiefst menschliche Klage, Ausdruck himmelhoher Freude oder abgrundtiefer Not. Gebet ist Reden mit Gott, innige Zwiesprache halten mit dem nahen oder fernen Wesen, innere Dialoge führen mit dem großen liebenden oder womöglich zürnenden Geist. Ihm sagen, was war und was ist, ihn fragen, was werden soll. Die ganze Bandbreite des Lebens kommt im Gebet zur Sprache, wenn Beten gelingt. Wie es gelingt, steht in der Bibel zu lesen, insbesondere im Gebetbuch Jesu, in der Sammlung der 150 Psalmen, diesen exemplarische Gebete in allen nur denkbaren Tonarten: singbare Gebete, betbare Lieder.

"Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen", jubelt der 8. Psalm, und der Psalm 104 schwärmt geradezu: "Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich, du bist schön und prächtig geschmückt, Licht ist dein Kleid, das du anhast!"

Den ganzen Erdkreis fordert der 98. Psalm zum Lob Gottes auf: "Das Meer brause und was darinnen ist, die Wasserströme frohlocken und alle Berge seien fröhlich!" "Jauchzet dem Herren, alle Welt!" heißt es mitreißend im 100. Psalm, und der 148. Psalm bietet Himmel und Erde zu seiner Ehre auf, Sonne, Mond und Sterne, Wind und Wetter, Menschen und Tiere, alles eben, was lebt und webt.

Beter und Sänger der Psalmen können aber auch anders. Wenn sie in tausend Nöten aus der Tiefe, "Herr, zu dir" rufen, nehmen sie kein Blatt vor den Mund. Unzensiert schreien sie Schmerzen des Lobes und der Seele heraus, würgen die unverdaulich dicken Brocken ihrer Schicksale vor Gott hin oder zetern aufsässig hinter ihm her. Gnadenlose Zustandsbeschreibungen sind die Psalmen, unbotmäßige Vorwürfe, messerscharf wie moderne Literatur, hart an der Grenze zur Lästerung.

"Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks", klagt der Autor des 22. Psalms. "Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt, mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs, meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, meine Zunge klebt an meinem Gaumen", beschreibt er sich. "Aber du bist ja heilig ... und du legst mich in des Todes Staub!" höhnt er. Geradezu zynisch geht es in Jesaja 63 zu: "deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich!"

Was für ein Gebet gar in Genesis 32: Zwischen Nacht und Morgengrauen ein "Ringen wie mit einem Feind", an dessen unentschiedenem Ende es heißt: "Ich lasse Dich nicht, du segnest mich denn!" Glücklicherweise ist Gebet auch "Reden wie mit einem Freund, innige Beziehung, mit Gott im Gespräch sein". So jedenfalls ist es im Alten Testament, in Exodus 33, beschrieben. Im Neuen redet das "Hohe Lied der Liebe" gar von der "Berge versetzenden Kraft des Glaubens". Wer ernsthaft etwas erbittet im Namen Gottes, sagt Jesus, wird es bekommen. Offenbar ist es erlaubt, Unmögliches zu begehren. Die beispielhaft bissige Alte in Lukas 18 jedenfalls bekommt am Ende, was sie will. So spricht einiges für eine gewisse Hartnäckigkeit des Gebets. Eigentlich aber überläßt das Gebet es Gott, ob und wie er Gebete hört und Bitten erhört. Ihn auf nur eine, die gewünschte Lösung festzulegen, wäre Erpressung.

Jesus, wenn er von Gott etwas für sich selbst erbittet, beginnt mit einem Vorwort. "Mein Vater, wenn's möglich ist, dann ...". Und er schließt mit einem Nachsatz. "Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!"" lehrt uns jedoch das Vaterunser, Urtypus christlichen Betens aus Matthäus 6 und Lukas 11. "Herr, lehre uns beten!" bitten die Jünger, und Jesus lehrt sie dieses erstaunlich kurze, um so kompaktere Gebet, das allem "Plappern" wehrt, dem Mißverständnis, man müsse "viele Worte machen". Trotzdem bleibt auch denen, die sich gut auf das Beten verstehen, das Eingeständnis: "Wir wissen nicht, was wir beten sollen". So Paulus in Römer 8, aber mit der tröstlichen Anmerkung: "Der Geist hilft unserer Schwachheit auf und vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen!" Wenn der Gebetsfaden "abreißt", betet offenbar etwas im Menschen weiter und überbrückt die Schwäche.

"Daß wir beten sollen, steht in der Bibel, was wir beten sollen, steht in der Zeitung"", weist Martin Luther King auf ein unerschöpfliches Reservoir für Fürbitten hin und darauf, daß Gebete nicht nur immer um das eigene Ich und dessen Bedürfnisse kreisen sollten. Für die Frage, wie wir beten sollen, gibt es viele schöne Hinweise, noch mehr gute Bücher und eine Fülle inniger Beispiele. ""Kurz soll man beten, aber kräftig", sagt Martin Luther zu unser aller Entlastung, und konnte doch selbst etliche Stunden am Tag im Gebet verbringen.

Beten geschieht am besten in schöner Regelmäßigkeit am Morgen und am Abend, wenn möglich auch zu festen Zeiten untertags: als schweigende Zwiesprache mit Gott, als vor sich und ihn hingesprochenes Wort, mit gefalteten oder geöffneten Händen. Treue gehört dazu. "Ich betete immer, selbst wenn ich glaubte, nicht beten zu können", heißt es in einem Gebetbuch. Aber auch nicht zu verachten, sagt die rabbinische Weisheit, sei das kleine Gebet zwischendurch, das "Gebet des Gehetzten", irgendwo unterwegs im geschäftigen Trubel der Städte. "Teuer, sehr teuer ist er vor Gott geachtet, und sein Gebet durchbohrt die Firmamente."

Beten kennt die verschiedensten Formen, hochsprachlich gefügte Texte, spontane Rufe vor Freude oder Entsetzen, hilflos gestammelte Worte, literarisch wertvolle Reime. Hochzuschätzen und gleichzusetzen mit den "Gebeten der Großen des Glaubens": Kindergebete in ihrer ungelenken und unverdorbenen Echtheit.

Beten kann schließlich einfach auch Stillwerden bedeuten, die eigene Leere spüren und Gott um Erfüllen bitten. "Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen, und zuletzt wurde ich ganz still", faßt Sören Kierkegaard seine Erfahrungen mit dem Gebet zusammen. Beten für Fortgeschrittene tröstlicherweise auch für gelegentlich wortlos Gewordene: einfach still werden vor Gott. Ekstase wie bei der Hochzeit zu Kana. Beides hat seine Zeit.


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