Liebe - An der Nächstenliebe hängt die Glaubwürdigkeit

Ulrike Aldebert

Über sie wird gesungen, gedichtet, geschrieben. Von ihr wird geträumt, erzählt, geschwärmt. Sie kann wachsen und blühen, aber auch vertrocknen und absterben. In den siebten Himmel kann sie einen emporheben, oder hineinstürzen in Höllenqualen. Tragödien und Schnulzen, Komödien und Dramen haben sie zum Thema - und auch in der Bibel spielt sie eine zentrale Rolle: die Liebe. »Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn (Hld 8,6) heißt es im Hohenlied Salomos, einer Sammlung von Liebesliedern.

Das hebräische Wort für Liebe, »Ahava«, steht im Alten Testament nicht nur für die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern bezeichnet auch Freundschaft, die Liebe Gottes zu den Menschen, die Liebe der Menschen zu Gott oder auch zu einer Sache. »Ahava« bleibt nicht auf die diffuse Sphäre eines Gefühls beschränkt, sondern beinhaltet sowohl einen konkreten Entschluß als auch sichtbare Konsequenzen. So zeigt sich die Liebe Gottes zu seinem Volk, indem er Israel erwählt und aus der Sklaverei Ägyptens befreit. Ganz konkret erleben die Israeliten das Erbarmen ihres liebenden Gottes. Diese Erfahrung ist für sie grundlegend.

Der Mensch ist aufgefordert, darauf zu antworten: »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.« (Dtn 6,4f) Wenn der Mensch die göttlichen Gebote einhält, zeigt sich nach jüdischer Auffassung dadurch seine Liebe zu Gott. Diese Liebe schließt auch eine weit gefaßte Nächstenliebe ein: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19,18). »Auch die Fremdlinge sollt ihr lieben, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland« (Dtn 10,19).

Jesus sieht die alttestamentlichen Gesetze und die Forderungen der Propheten zusammengefaßt in dem Gebot der Liebe. Als er einmal gefragt wird, was das höchste Gebot sei, antwortet er: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Mt 22,37-39). Unauflöslich gehören für Jesus diese beiden Gebote zusammen. Als dann die Frage auftaucht, wer denn der Nächste eines Menschen sei, kleidet Jesus seine Antwort in eine Geschichte: Er erzählt von einem Mann, der unter die Räuber gefallen und halbtot am Straßenrand liegengeblieben ist. Ein Priester und ein Levit kommen vorbei. Das sind Leute, die die Liebe zu Gott zu ihrem Beruf gemacht haben, hochgeachtete Amtsträger. Aber sie lassen den Verletzten liegen, vielleicht, weil sie es eilig haben, in den Tempel zu kommen.

Da kommt ein Samariter, ein religiöser Außenseiter, der packt zu und hilft dem Verwundeten. »Geh hin und tue desgleichen!« (Lk 10,37) fordert Jesus seine Zuhörer auf. Der »Nächste« - das ist für Jesus also jeder Mensch, der gerade Hilfe braucht, unabhängig von seiner Religion, seiner Nationalität, seinem gesellschaftlichen Stand. Es ist eine grenzenlose Liebe, die Jesus fordert.

Sogar Feinde fallen darunter: »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: `Du sollst deinen Nächsten lieben´ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt euere Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.« (Mt 5,43f). Viele Menschen fragen sich: ist das nicht zu viel verlangt?

Welcher - auch noch so bemühte Christ kann das schaffen, seinen Feind tatsächlich zu lieben? Vermutlich war Jesus klar, daß eine solche Vollkommenheit schwierig ist. Dennoch stand sie ihm als Ziel vor Augen, und er versuchte in seinem eigenen Leben, ihr zu entsprechen. Sein Sterben am Kreuz, bei dem er sogar für seine Peiniger noch um Vergebung bitten konnte (vgl. Lk 23,34), wurde von den Christen von Anfang an als Ausdruck einer großen göttlichen Liebe angesehen. »Darin besteht die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden. Hat uns Gott so geliebt, so sollen auch wir untereinander lieben.« (1 Joh 4,10-11). Der schmerzlich empfundene Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Liebe ist demnach durch Jesus Christus bereits versöhnt.

Deshalb können wir diese Spannung aushalten und für unser Leben immer wieder fruchtbar machen. Auch der Apostel Paulus erkennt die zentrale Bedeutung der Liebe. Selbst die eindrucksvollsten menschlichen Handlungen bleiben seiner Ansicht nach bedeutungslos, wenn sie ohne Liebe geschehen. Paulus schreibt: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen« (1 Kor 13,13).

Auch für Johannes steht und fällt die Beziehung zu Gott mit der Liebe: »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm« (1 Joh 4,16b). Der Kirchenvater Augustin hat deshalb später sagen können: »Liebe - und tue, was du willst!«

Die Kirche hat seit ihren Anfängen immer wieder versucht, sich auch als Institution in ihrem Handeln vom Liebesgebot leiten zu lassen. Das ist nicht immer gelungen. Dennoch waren die Kirchen, insbesondere die Klöster, schon immer Orte diakonischen Handelns: es wurde Asyl gewährt, Kranken- und Armenpflege betrieben sowie die Bildung vorangetrieben. Mit dem Ziel, für kirchenferne Menschen dazusein, gründete sich im 19. Jahrhundert die Innere Mission. Johann Hinrich Wichern, ihr Gründervater, sah die Liebe für die Kirche als »das große Werkzeug, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist.« Diakonische Werke werden bis heute als unverzichtbare Lebensäußerung der Kirche angesehen. Neben der institutionellen Diakonie hängt aber auch für Kirchengemeinden sowie einzelne Christen ihre Glaubwürdigkeit an der Frage der Nächstenliebe. Im Sinne Christi ist immer wieder neu zu fragen, wer im Augenblick unser Nächster ist.


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