Buße und Beichte
Warum will keiner sein Gewissen erleichtern?

Andreas Ebert

Die Menschen haben sich in den vergangenen Jahrtausenden nicht grundlegend geändert. Und sie werden es wohl auch künftig nicht tun. Unser Zusammenleben ist vergiftet. Das Grundproblem, das haben schon die Propheten Israels so gesehen, ist die Abkehr vom lebendigen Gott und die Hinwendung zu falschen Göttern. Sie führt zu zahllosen persönlichen, sozialen und politischen Verstrickungen.

Zum Götzen kann alles werden, was nicht Gott selbst ist, wenn es von uns so Besitz ergreift, daß unser Tun und Streben davon beherrscht wird: Arbeit, Sex, Erfolg, materieller Besitz, Meinungen, Genußmittel, Neigungen, Abneigungen, das eigene (positive oder negative) Selbstbild, ein anderer Mensch. Das Fatale ist, daß Götzen nie halten, was sie versprechen. Sie machen abhängig. Das Glück, das sie schenken, hat immer einen bitteren oder schalen Nachgeschmack. Häufig geht es auf Kosten anderer. Es dient nicht dem Leben aller, sondern gebiert letztendlich den Tod.

Deswegen haben die Propheten zur Umkehr gerufen. Sie haben das unerbittliche Strafgericht Gottes über die Götzendiener verkündet. Das hat selten gefruchtet. Es hat eher Ängste geschürt vor einem rächenden Gott. Angst aber lähmt und führt nie zu tiefgreifenden Veränderungen. Jesus tritt auf und ruft ebenfalls zur Umkehr auf. Aber er begründet das anders. Er verkörpert das Reich Gottes, ein echtes und menschliches Leben im Angesicht eines liebenden Gottes. Gott kommt! Das ist jetzt eine Einladung. Liebe wirkt motivierender als Angst.

Wer sich als geliebt erlebt, kann loslassen und wirklich neu beginnen. Er braucht die alten Ersatzbefriedigungen immer weniger. Wer Vergebung erfährt, kann endlich nach vorne blicken. Die Sünde ist ja nichts anderes als ein Versuch mit ungeeigneten Mitteln, Liebe und Glück zu erfahren. Die Umkehr zu dem Gott, den Jesus predigt, eröffnet wirkliches Glück. Das muß keineswegs asketische Züge haben, wie der Lebensstil Jesu zeigt, der beides konnte: verzichten und feiern.

Trotz Jesus haben Worte wie "Buße", "Bekehrung" oder "Beichte" bis heute einen eher düsteren Klang. Das hat mit einer jahrhundertelangen kirchlichen Praxis zu tun, die es oft versäumt hat, die Großzügigkeit des himmlischen Vaters zu verkündigen und weiterzugeben.

In der Urchristenheit war die Erwachsenentaufe das öffentliche Zeugnis einer vollzogenen Lebenswende. Indem der ganze Mensch untertauchte, wurde das alte Leben der Gottferne und des Götzendienstes "ersäuft". Als die Kirche wuchs und auch Säuglinge getauft wurden, wurde immer klarer, daß auch Getaufte sündigen. So entstand allmählich die Einrichtung der Beichte. Jesus selbst hatte ja Sünden vergeben (interessanterweise ohne vorangegangenes menschliches Sündenbekenntnis) und er hatte seine Jünger bevollmächtigt, dasselbe zu tun. Nach römisch katholischer Auffassung kann nur ein geweihter Priester die Absolution aussprechen. In der orthodoxen Kirche beichtet man vor einem Mönch oder geistlichen Vater, der durch sein Leben eine besondere Gottesnähe ausstrahlt.

Luther hat die persönliche Beichte hochgeschätzt. Er konnte sich gelebtes Christsein ohne sie gar nicht denken. Nirgendwo sonst läßt sich die bedingungslose Liebe Gottes so handgreiflich erfahren wie im persönlichen Zuspruch: "Dir sind deine Sünden vergeben." Aber Luther lehnte den römischen Beichtzwang ab. Er hoffte, die Leute würden freiwillig zur Beichte kommen, wenn das Evangelium recht verkündigt würde. (Übrigens war Luther der Meinung, daß jeder Gläubige einem anderen Vergebung zusprechen kann À nicht nur ein Pfarrer). Aber Luthers Optimismus im Blick auf die evangelische Beichte war blauäugig. Außer in einigen "Erweckungsbewegungen" - zum Beispiel im 19. Jahrhundert im schwäbischen Möttlingen - geriet die Einzelbeichte bei uns in Vergessenheit oder wurde durch gemeinsame, allgemeine Formen abgelöst. Dietrich Bonhoeffer hat als Leiter des Predigerseminars Finkenwalde im 3. Reich versucht, die Beichte wiederzubeleben, seine Vision wurde jedoch nicht weiterverfolgt.

Selbst die allgemeine Beichte verschwindet immer mehr aus unseren Gottesdiensten. Wollen wir nicht mehr auf unsere Schuldfähigkeit angesprochen werden? Das wäre fatal. Denn ohne Einsicht in eigene Schuld kann man auch nicht die befreiende Erfahrung der Vergebung und des Neuanfangs machen. Es gehört zur Würde des Menschen, daß wir schuldig werden können und mehr sind als ein Produkt der Umstände. Und daß wir fähig sind zu Reue und Schuldeinsicht. Im Tiefsten wissen wir das. Das Bedürfnis, Altlasten abzulegen und angenommen zu werden, ist ja geblieben.

Der Schweizer Dichter Max Frisch hat geschrieben: "Ein Katholik hat die Beichte, um sich von seinem Gewissen zu erholen, eine großartige Einrichtung; er kniet nieder und bricht sein Schweigen, ohne sich den Menschen auszuliefern, und nachher erhebt er sich, tritt wieder seine Rolle unter den Menschen an, erlöst von dem unseligen Verlangen, vom Menschen erkannt zu werden. Ich habe bloß meinen Hund, der schweigt wie ein Priester, und bei den ersten Menschenhäusern streichle ich ihn."

Die Sprechzimmer der Psychotherapeuten wären sicher leerer, wenn es bei uns eine "gesunde", menschenfreundliche Beichtpraxis gäbe - und Gemeinden, in denen Menschen es sich leisten können, auch Wundes und Dunkles preiszugeben. Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker haben von diesem Geheimnis mehr begriffen als die meisten christlichen Kreise. Von ihnen könnten wir unendlich viel lernen. Reicht es denn nicht, die eigene Schuld still vor Gott zu bekennen? Natürlich "reicht" das. Und doch scheint das Aussprechen unersetzbar zu sein.

Durch das Bekennen wird das, was ich sage, verbindlich. Aus nebulösen Schuldgefühlen kann mit Hilfe eines wachen Gegenübers klare Einsicht werden. Ich kann mit seiner Hilfe unterscheiden, was neurotische Schuldgefühle sind - und wo ich mich wirklich verfehlt habe und der Vergebung bedarf. Die Jahrtausendwende birgt die Chance, Bilanz zu ziehen. Gibt es Altlasten, die ich nicht mitschleppen will über diese Schwelle?

Zur "Schwellenseelsorge" könnte auch gehören, daß unsere Gemeinden verstärkt Angebote der persönlichen und gemeinsamen Umkehr und Beichte machen würden À und daß sich viele den Luxus einer Lebensbeichte leisten würden. Die untrügliche Folge wirklicher Umkehr ist Freude. Warum gönnen wir uns die so selten?


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