Mystik
Die Seele der Religion

Andreas Ebert

»Der Christ des 21. Jahrhunderts wird Mystiker sein - oder er wird nicht sein.« So hat es der katholische Theologe Karl Rahner ausgedrückt. Ein erstaunliches Urteil aus dem Munde eines Universitätslehrers. Denn die Mystik ist keine Sache akademischer Wissenschaftler. Und auch keine Sache kirchlicher Amtsträger. Die Mystik ist im Laufe der Geschichte meist Laiensache gewesen - und Frauensache. Gerade zu einer Zeit, als die Frauen in der Kirche zum Schweigen verdammt waren. Vielleicht waren sie gerade deshalb fähig, nach innen zu lauschen.

Alle großen Religionen haben einen mystischen Flügel - meist am Rand der Institutionen mit ihren Dogmen, Ritualen und Schriften. Das Wort Mystik kommt vom griechischen Verbum »myein« (die Augen schliessen), verwandt damit sind »mystes« (der Eingeweihte) und »mysterion« (das Geheimnis).

In der Mystik geht es um die unmittelbare Erfahrung der Begegnung mit dem Göttlichen. Sie ist ein Protest gegen eine veräußerlichte Religion. Deswegen gehört zur Geschichte der Mystik auch die Verfolgung ihrer Anhänger. Denn die Mystik relativiert »amtliche« Weisen der Gnadenvermittlung. Und doch kann keine Religion ohne ihre Mystiker lebendig bleiben. Sie halten das Feuer der Gottessehnsucht und Gottesliebe lebendig.

Die Mystik ist gleichsam die Seele der Religion. Sie ist die Erfahrungsseite des Glaubens. In der Mystik geht es immer um die Entdeckung Gottes in der Seele, um die Durchdringung der menschlichen Person von der göttlichen Gegenwart und um die Vereinigung mit Gottes Willen und Wesen. Dabei kann Gott zugleich als »Du« erfahren werden und als Seinsgrund - vergleichbar der »Luft, die alles füllet« oder dem der Himmel den Vogel oder das Wasser den Fisch.

Christliche Mystik ist so alt wie die Kirche. Paulus wurde durch eine direkte mystische Begegnung mit dem Auferstandenen zum Christen - und nicht durch menschliche Vermittlung. Er spricht von einer mystischen Erfahrung, wenn er sagt: »Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir« (Galater 2,20). Ähnlich zielt das Johannesevangelium auf die mystische Vereinigung der Christen mit Christus: »Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast«, sagt Jesus in den »Abschiedsreden« des Evangeliums, »damit sie eins sind, so wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir.« (Johannes 17,22+23) Die Kirche wird bereits bei Paulus als »mystischer Leib« verstanden, in dem alle geheimnisvoll miteinander und mit Christus verbunden sind.

Vertieft haben sich mystische Erfahrungen und Auffassungen im frühen Mönchtum der »Wüstenväter« und »Wüstenmütter«. Evagrius Pontikus (346-399) entwickelte eine Stufenleiter, auf der der gefallene menschliche Geist allmählich zur Einheit mit dem göttlichen Geist zurückkehrt. Am Ende steht die innere Schau des Geheimnisses der göttlichen Dreifaltigkeit, in die der Schauende vollständig aufgenommen wird. 150 Jahre nach seinem Tod wurde Evagrius als Ketzer verurteilt: Seine Ansichten drohten angeblich die Grenzen zwischen dem erhöhten Christus und dem Glaubenden zu verwischen.

Dieser Vorwurf verfolgte die Mystiker seither auf Schritt und Tritt und führte unter anderem zur posthumen Verurteilung von Meister Eckhardt (1260-1326), der die Meinung vertrat, dass es im Innersten des Menschen (»Seelengrund«) einen Ort gibt, wo der Abstand zwischen Geschöpf und Schöpfer aufgehoben werden kann. Durch die Loslösung von der äußeren Welt (»Gelassenheit«) wird die Gottesgeburt in der Seele vorbereitet.

Es gibt sehr unterschiedliche Ausprägungen und Wege christlicher Mystik. Der »Hesychasmus« orthodoxer Menschen etwa ist der Versuch, durch Schweigen und Wiederholung des Jesusnamens im Atemrhythmus (»Herzensgebet«) zur Schau des göttlichen Lichts zu gelangen. Die erotisch gefärbte christliche »Liebesmystik«, die Gott und Seele als Bräutigam und Braut sieht, war nicht zuletzt vom islamischen »Sufismus« beeinflusst (wie sich überhaupt die »Mystiker« der großen Religionen meist unbefangen begegnet sind, weil sie die Verwandtschaft ihrer Erfahrung erkannt haben).

Der junge Martin Luther hatte eine gewisse Sympathie für die Mystik, weil sie die Passivität des Menschen gegenüber Gott betont und davon ausgeht, dass man nicht durch Spekulation, sondern durch Erfahrung zum Glauben findet. Sein eigenes »Turmerlebnis«, bei dem er von der Erkenntnis der bedingungslosen Liebe Gottes überwältigt wurde, trägt wohl mystische Züge. Bald aber musste sich Luther mit den »Täufern« (Karlstadt, Müntzer) auseinandersetzen, die sich auf innere Gotteserfahrungen unabhängig vom biblischen Wort beriefen. Das war für Luther »Schwärmerei«.

Gottes Geist ist nach Luther an das äußere Wort der Predigt gebunden und ist unabhängig vom »Wort« nicht zu haben. Seither hatten es Mystiker im Luthertum immer schwer. Sebastian Franck (1499-1542) und Jakob Böhme (1575-1624) blieben kirchlich gesehen Randgestalten. Erst der »Pietismus«, der persönliche Bekehrung und ein geheiligtes, praktisches Christentum anstrebte, entdeckte mystische Quellen neu. Insbesondere ist der Liederdichter Gerhard Teerstegen (1697-1769) zu nennen, der die Lehre des mittelalterlichen Mystikers Johannes Tauler (1300-1361) aufgreift, dass das göttliche Wort im Seelengrund geboren wird.

In der sogenannten Aufklärung, die nur noch die Vernunft gelten liess, geriet die Mystik in Vergessenheit. Auch viele bedeutende evangelische Theologen unseres Jahrhunderts (insbesondere Karl Barth und Rudolf Bultmann) standen ihr kritisch bis ablehnend gegenüber und wollten das Heilsgeschehen ganz auf das Hören des Wortes beschränken. Erst seit ein paar Jahren wendet sich das Blatt. Jörg Zink und Dorothee Sölle etwa plädieren leidenschaftlich für eine neue evangelische Mystik, in der sich Kontemplation (Innenschau und Gottesliebe) und Kampf (Engagement für eine gerechtere Welt) verbinden.

Christliche Mystik richtet sich auf den dreieinigen Gott aus. Und sie weiss, dass alle Gotteserfahrungen, die man bereits in dieser Welt machen kann, vorläufig sind. Schon im Evangelium wird berichtet, dass die Jünger nicht auf dem Berg der Verklärung bleiben dürfen, sondern wieder hinabsteigen müssen in die Niederungen des irdischen Lebens. Paulus, der Christus geschaut hat, spricht dennoch davon, dass wir »im Glauben und nicht im Schauen« leben (2. Kor. 5,7). Dennoch haben wir als Christen Anteil am Heiligen Geist, der innere Gotteserfahrungen des Friedens, der Liebe oder einer heiligen Unruhe schenkt. Die Erlösung, die er vermittelt, vermag den ganzen Menschen zu ergreifen und das Leben zu verwandeln.

In Augenblicken, in denen wir in der Gewissheit und Freude ruhen, Gottes geliebte Kinder zu sein, in Augenblicken, in denen wir spüren, dass nicht zählt, was wir haben oder leisten, sondern wer wir vor Gott und in Gott sind - sind wir alle Mystikerinnen und Mystiker. Nur ein Glaube, der nicht im Kopf bleibt, sondern unser ganzes Sein erfasst, wird uns genügend Kraft und Freude schenken, um uns über die Schwelle des nächsten Jahrtausends zu tragen. Wie sagt Meister Eckhardt? »Der in Gott versetzte Mensch wird von Freude durchkitzelt, in allem, was er tut und lässt!« Wer das schon einmal verspürt hat, hat eine mystische Erfahrung gemacht.


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