Religion

Tilmann Haberer

"Wer's glaubt, wird selig!" So sagen manche Menschen, wenn sie etwas absolut unglaubwürdig finden. Glauben, so wird damit gesagt, das ist eigentlich etwas Absurdes. Immerhin glauben in den alten Bundesländern noch 71 Prozent der Menschen an die Existenz Gottes. In den neuen Bundesländern sind es nur noch 30 Prozent, unter den 20- bis 50-Jährigen nur noch jeder Sechste. Nach einer Quelle aus dem Internet haben in den letzten fünf Jahren 3,5 Millionen Menschen den Glauben an Gott verloren.

Es scheint aus der Mode gekommen zu sein, und viele meinen: Wer seinen Verstand gebraucht, der kann gar nicht glauben. Das ist natürlich Unsinn, denn es gibt viele sehr intelligente Menschen, die an Gott glauben. Ebenso wie es dumme Atheisten gibt. Und umgekehrt: Dumme Gläubige und intelligente Atheisten. Es hängt ganz sicher nicht an der Intelligenz, ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht. Wie ist aber so etwas wie Glaube an ein höheres Wesen, an Gott überhaupt entstanden? Wer hat die Religion "erfunden"? Wo kommt sie her?

Glaube der Urmenschen Natürlich können wir diese Frage nicht genau beantworten. Aber wir können feststellen: Von den allerersten Anfängen der Menschheit an waren die Menschen religiös. Wo immer die Paläoanthropologen, also die Forscher, die die Urgeschichte der Menschheit erforschen, auf Spuren von Menschen gestoßen sind, da fanden sie neben Waffen, Werkzeugen und Nahrungsresten auch Hinweise auf religiöse Betätigung, auf den Glauben an irgendwelche Mächte, die größer sind als wir Menschen.

Dieser religiöse Glaube der Urmenschen hatte viel mit dem Alltag dieser Menschen zu tun; wir können das teilweise noch an den wenigen Völkern und Stämmen studieren, die bis heute in der Steinzeit leben. Die Religion dieser Menschen wird als "Animismus" bezeichnet, vom lateinischen Wort "anima", Seele. Diese Religion geht davon aus, dass alles beseelt ist, jede Pflanze, jedes Tier, auch jeder Ort, jeder Stein. Alles hat eine Seele, alles hat Bewusstsein. Mit allem kann man in Verbindung treten. Ja, alles ist mit allem verbunden.

Deswegen hilft zum Beispiel eine Höhlenzeichnung, auf der eine Jagdszene dargestellt ist, bei der realen Jagd. Deshalb kann ein Schamane sich in sein Totemtier verwandeln. Alles ist mit allem verbunden, das ist die Überzeugung, die in allen einfachen und in vielen hoch entwickelten Religionen vorhanden ist. Alles ist belebt. Alles ist beseelt, von Geist durchdrungen, von einer unsichtbaren Gegenwart.

Vor einigen Wochen war ich in Namibia, auf einer Farm, und wenn die Nächte klar waren, bot sich ein überwältigendes Schauspiel am Himmel: Die Luft ist dort sehr trocken und daher durchsichtig, es gibt keine Straßenlaternen und daher kein Streulicht, und wenn der Mond nicht am Himmel stand, waren die Sterne in einer unglaublichen Klarheit, Dichte und Schönheit am Himmel zu sehen. Allein dieser Anblick, denke ich, reicht bei vielen Menschen schon aus, um eine Ahnung zu bekommen davon, dass unser kleines menschliches Leben nicht alles ist - dass es eine größere Macht gibt, einen Schöpfer, einen Weltgeist, wie auch immer.

Wenn Paulus im Römerbrief davon schreibt, dass alle Menschen Gott an seinen Werken erkennen könnten, dann geht er genau von dieser Beobachtung aus: Die Natur ist so großartig, dass sie auf einen großartigen Schöpfer verweist.

Neben dieser Erfahrung der großartigen Natur stellt sich allen Menschen ein Problem: der Tod. Was ist mit einem Menschen, der stirbt? Eben war er noch lebendig, atmete, konnte sprechen, sich bewegen, und nun ist es unwiderruflich vorbei. Er wird sich nie wieder bewegen, nie wieder sprechen, nichts mehr essen und trinken " dabei hat sich nichts Sichtbares verändert. Er hat einfach aufgehört zu atmen. Die Vorstellung liegt nahe, ja sie ist fast unvermeidlich, dass da etwas nicht mehr vorhanden ist, was vorher da war, eine Kraft, die ihn bewegte und belebte " und was wird daraus? Diese Kraft kann doch nicht einfach verschwunden sein. Also denken sich die Zurückgebliebenen: Diese Kraft hat den Menschen verlassen und ist anderswo hingegangen. So entsteht zugleich mit dem menschlichen Bewusstsein die Überzeugung, dass der Mensch eine Seele hat, die seinen Tod überdauert. Sie geht zu den anderen Ahnen, und sie kann weiter wirken. Deswegen muss man sich die Ahnen gnädig stimmen.

So entsteht Religion, historisch betrachtet. Je weiter sich das Bewusstsein der Menschen entwickelt, desto differenzierter wird das Bild. Aus den vielen, vielen Geistern, die jeden Baum und jede Quelle bevölkern, werden Götter, die ihre eigenen Zuständigkeiten haben: Poseidon oder Neptun für die Meere, Ares oder Mars für den Krieg, Aphrodite oder Venus für die Liebe und so weiter. Aber diese Götter sind schon weiter weg gerückt. Sie können überall anwesend sein, sind nicht mehr an bestimmte Orte, Berge, Bäume oder Quellen gebunden. Und schließlich geht in allen Religionen, wenn sie ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreichen, die Tendenz dahin, nur noch an eine einzige göttliche Kraft zu glauben, die sich vielleicht in verschiedenen Gestalten offenbart. Letztlich steht aber hinter allen Göttinnen und Göttern ein Gott. Sokrates war einer der Ersten, die diesen Gedanken im Abendland gedacht haben. Aber auch im Hinduismus mit seinen vielen Hauptgöttern und Millionen Nebengöttern ist der Gedanke verbreitet, dass diese Götter und Göttinnen Ausdrucksformen des einen Gottes sind. Die Tendenz geht also, um die Fachausdrücke zu verwenden, vom Animismus über den Polytheismus zum Monotheismus. Das Volk Israel war das erste Volk, in dem der theoretische Monotheismus ausgedrückt wurde, das heißt der Gedanke, dass es überhaupt nur einen einzigen Gott gibt. Um das Jahr 550 vor Christus, während des babylonischen Exils, schreibt ein Prophet: "So spricht der Herr, der König Israels, und sein Erlöser, der Herr Zebaoth: Ich bin der Erste, und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott" (Jesaja 44,6). Das war zur damaligen Zeit ein unerhörter Gedanke, auch in Israel war bis dahin noch keiner auf die Idee gekommen, die Existenz anderer Götter einfach zu leugnen. Bis dahin war in Israel der Glaube vorherrschend, dass Israel nur diesen einen Gott habe, die anderen Völker hatten andere Götter. Deren Existenz wurde nicht bestritten, allerdings durfte Israel nur diesen einen Gott anbeten.

Für Jesus gab es nur diesen einen Gott, den er seinen Vater nannte. Für die Anhänger Jesu und für die ersten christlichen Gemeinden galt aber: In diesem Menschen Jesus aus Nazareth hat sich Gott gezeigt, wie er wirklich ist. Nicht aus dem großartigen Sternhimmel, nicht aus den scheinbar belebten Bäumen und Quellen, nicht aus Spekulationen über das, was den Menschen beseelt und im Tod verlässt, entsteht der christliche Glaube, sondern aus der Begegnung mit Jesus Christus, in dem sich Gott selbst offenbart. Der Schweizer Theologe Karl Barth hat aus diesem Grund sogar bestritten, dass das Christentum eine Religion sei. Auch wenn wir diesem radikalen Ansatz nicht folgen wollen, bleibt festzuhalten, dass der christliche Glaube auf dem Leben, Sterben und Auferstehen des historischen, einmaligen Menschen Jesus aus Nazareth beruht. Kein allgemein menschliches, religiöses Gefühl ist die Grundlage unseres Glaubens, sondern die Begegnung mit diesem Jesus Christus. Durch sie gewinnt das religiöse Gefühl, das Christen mit anderen Gläubigen teilen, seine Zuspitzung, seinen Inhalt und seine Wahrheit.

In der nächsten Folge "Katechismus 2000" lesen Sie: Schöpfung


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