Sünde und Schuld

Helmut Frank

Sündige tapfer, aber tapferer glaube! Manche Pfarrer und Theologen meiden das Wort "Sünde" wie der Teufel das Weihwasser. Der Begriff ist mittlerweile in der Reihe der theologischen Unwörter gelandet, zusammen mit dem Teufel, der Hölle und dem Jüngsten Gericht. Wie kann auch ein vernünftiger, aufgeklärter Christ daran glauben? Eingeordnet in das antik-mittelalterliche Weltbild, werden diese unmodernen Dinge abgetan, im besten Fall psychoanalytisch interpretiert " obwohl die Bibel eindeutiges dazu zu sagen hat.

Zur Verdrängung gesellt sich die Verharmlosung: Man redet vom "Rotsünder" auf dem Fußballplatz, vom "Verkehrssünder" auf der Straße und vom "Sündigen" im Zusammenhang mit dem Genuss von Pralinen. Freilich hat die Kirche selbst viel dazu getan, den Begriff der Sünde zu diskretitieren, als sie ihn moralisch füllte und alles was den Menschen Spaß macht, in die Nähe des Verwerflichen rückte. Lange hat sich die Kirche darüber definiert, dass sie nach dem St. Floriansprinzip den Menschen ein schlechtes Gewissen und die Angst vor Teufel, Tod und Hölle geschürt hat, um dann als Heilsanstalt Wege der Erlösung anbieten zu können.

Heute ist in der Kirche von Sünde allenfalls noch in der Liturgie die Rede, nicht im normalen Gespräch unter Christen " sieht man einmal von manchen freien Gemeinschaften ab, die das öffentliche Sündenbekenntnis kultivieren. In seiner extremen Form verdammt dabei ein "wiedergeborener Christ" sein früheres Leben, das voller Sünden und Laster war. Das vorherige, durch und durch verwerfliche Leben wird zur Negativfolie für den Bekehrten. Die neue Existenz wird dagegen verherrlicht, so dass man glaubt, einen Heiligen vor sich zu haben.

Die Ernsthaftigkeit kann man diesen ritualisierten Bekenntnissen nicht absprechen. Die Frage ist jedoch: was ist damit gewonnen? Geht das überhaupt, kann sich der Mensch wirklich bessern? Natürlich kann er das. Aber ist dieser Mensch damit Gott näher gekommen?

Die Bibel hat ein viel tieferes Verständnis von Sünde, als dass der Mensch selbst irgendwie damit fertig werden könnte. Der Gegensatz zu Sünde ist keinesfalls Tugend, sondern Glaube und Vertrauen auf Gott (Rm 14,3). Andersherum nennt Paulus all das Sünde, was nicht aus dem Glauben, das heißt aus der Einheit mit Gott kommt. Die Sünde, das ist " theologisch gesprochen " der Unglaube! Luther hatte dies erkannt, als er die Formel entwarf "pecca fortider, sed fortius fide" " sündige tapfer, aber tapferer glaube! Im ausgehenden Mittelalter klang diese Aufforderung provokativ. Sünde, Tod und Teufel waren Realitäten, die Angst vor Höllenqualen und Fegefeuer allgegenwärtig. Luthers "sündige tapfer" wirkte wie ein Hohn auf die Kirche, die alle Anstrengung darauf verwandte, die Sündenlast dem Menschen bewusst zu machen " um sie dann mindern zu können. Die institutionalisierte Gnadenvermittlung war gefährdet, die Kirche alarmiert.

Theologen aller Generationen " auch evangelische " haben versucht, dieses Lutherwort, das uns in einem Brief an Melanchthon vom 1. August 1521 überliefert ist, abzuschwächen. Luther wäre überarbeitet gewesen oder habe wieder einmal rhetorisch übertrieben, heißt es. Seine Gegner warfen ihm vor, den Sittenverfall zu befördern, Hurerei und Mord Vorschub zu leisten.

All dies hatte Luther natürlich nicht im Sinn, er meinte kein "sündige drauf los". Wenn dies jemand dennoch tun wollte, konnte Luther ironisch werden und sagen: "Wer in Babylon bleiben will, der bleibe, aber man muss ihm ebenso tapfer ankündigen, dass er in der Hölle enden werde."

Luther hatte keinen moralischen Sündenbegriff. Sünde ist für ihn die höchste Gefährdung des Lebens, weil sie uns von Gott, der Quelle des Lebens, trennt. Was meinte er aber mit seinem berühmten Spruch?

Er meinte nichts anderes als das Pauluswort "Wir sind allzumal Sünder" (Rm 3,23). Luther meinte: Steh dazu, dass du ein Sünder bist und bleibst, und sieh der Sünde unerschrocken ins Gesicht. Mach vor dem Abgrund deines Lebens nicht kehrt, sondern schau mutig hinunter, denn dort findest du den rettenden Christus!

Psychologisch gedeutet, kam es Luther darauf an, dass die Sünde nicht nach innen verdrängt wird. Sie muss begangen, bewusst gemacht und bekannt werden, sonst zerfrisst sie das Innere. Das Chaos in und um uns gilt es tapfer zu akzeptieren, so wie der heilige Franziskus von Assisi den bedrohlichen Wolf von Gubbio in die Arme nahm und sich mit ihm arrangierte. Luther erkannte: Der Versuch, das Böse zu eliminieren, scheitert im Inneren und äußeren. In der Welt wird dadurch nur neue Gewalt geboren, im Selbst neue Abgründe geschaffen.

Luther ging es um mehr als um die psychische Balance: Christus ist stärker als das Über-Ich, das über Generationen von der moralischen Institution Kirche produzierte schlechte Gewissen. Der vergebende Christus soll diesen Platz einnehmen. Wer nun glaubt, dies sei ein Freifahrschein für ein moralfreies Verhalten, hat nichts von der Gnade verstanden, die einen Menschen neu machen kann. Luther hielt die Beichte für den adäquaten Rahmen, Sünde auszusprechen und Vergebung zu erfahren.

Es gibt also keine Reihenfolge "erst sündigen, dann glauben", sondern nur ein "der Sünde glaubend ins Gesicht schauen". Sich irgendwie durchzulavieren war Luthers Sache nicht. In seiner Spätschrift "Wider den Kardinal von Magdeburg" bat Luther im Schlusssatz "Gott hilf, dass wir fromme Sünder bleiben und nicht heilige Lästerer werden".

Philosophen aller Epochen haben versucht, das Phänomen der Sünde zu deuten und zu erklären. Ausgangspunkt war dabei fast immer die unstreitbare Erkenntnis, dass der Mensch zum Bösen fähig ist. Diese Beobachtung führt zur Frage: Wie kam die Sünde in die Welt? Ein Betriebsunfall Gottes, weil nicht vorgeplant?

Dabei wurde die Sünde nicht immer nur negativ interpretiert. In der idealistischen Philosophie Hegels wird Sünde als vom Schöpfergott durchaus kalkulierter Fortschritt gesehen. Des Menschen Sünde ist dann die wichtige Emanzipation von Gott, der Sprung in die Existenz. Freiheit, Getrenntsein von Gott und wahres Menschsein sind bei Hegel dasselbe.

Nach Ansicht des dänischen Philosophen Soren Kierkegaard hat der Mensch gar keine Wahl, weil er schon dadurch zum Sünder wird, weil er sich der Freiheit bedient, also von der "träumenden Unschuld" erwacht. Ganz in der Tradition Luthers steht auch der Ansatz von Bonhoeffers Ethik, dass die Bereitschaft, Sünde auf sich zu nehmen, die Voraussetzung für die Lebendigkeit des Menschen ist.


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