Wissen und Glauben - Verwandelt in göttliche Weisheit

Paul Rieger

"An dem Tage, an dem ihr vom Baum esst, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet wie Gott", spricht die Schlange zu Adam und Eva im Garten Eden. Klug rührt sie an den edlen und unheimlichen Leidenschaften des Menschen: entdecken und erkennen, wissend werden. Mehr noch: Allwissend zu sein! (Faust: Zwar weiß ich viel, doch möchte ich alles wissen). Soweit sich die Menschheitsgeschichte zurückverfolgen lässt, suchen, sammeln und schaffen Menschen Wissen. Nichts anderes besagt der Begriff Wissenschaft. Wer Wissen schafft, gewinnt Macht. Macht über die Natur, Macht über den Weltraum, Macht über die Moral und Macht über andere Menschen. Und vielleicht einmal auch Macht wie der allmächtige Gott. Das entzündet und schürt zugleich gute und böse Leidenschaften. Die Schlange wusste genau, womit sie locken konnte.

In der Menschheitsgeschichte gab es Augenblicke, in denen in besonderer Weise den Menschen "die Augen aufgetan wurden". In der Bibel finden sich verdeckt und offen Reste und Widerschein dieser gewaltigen Wissens- und Machtaufbrüche. In der Paradiesgeschichte schwingt spürbar nach, welch Glück es bedeuten musste, plötzlich in einem Garten wohnen zu dürfen. Ein bepflanzter Garten, das war das Paradies! Jetzt war das Heil angebrochen. Gott selbst ging hier spazieren. Einige tausend Jahre später dann der Turmbau zu Babel. Vor lauter "Turm" übersehen wir, dass diese Geschichte in kurzen Worten den Bau einer ersten Stadt widerspiegelt. Noch nie Dagewesenes auf Erden ersteht. Dämme und Kanäle, Pyramiden, Tempel und ein Heer, das die Feinde abwehrt. Die Türme erreichen den Himmel.

Dann noch ein gewaltiger Schritt mit der Herausbildung der Naturwissenschaften, der Technik und der Industrie. Der Fortschrittsglaube erfasste vor hundert Jahren die Menschen wie ein Sturmwind. Es fehlt nicht mehr viel zum Heil der Menschheit. Forschen wir weiter, dann brauchen wir Gott nicht mehr. Die französische Revolution hat ihn gestürzt und die Göttin der Vernunft eingesetzt. Im Zentrum von New York baute Rockefeller seinen Wolkenkratzer. Auf die Wände der riesigen Eintrittshalle ließ er die Bilder des kommenden Heils malen. Eines zeigt eine gekreuzigte Frau, Symbol der Menschheit, sie hängt zermartert am Kreuz, Techniker, Ärzte und Monteure eilen herbei, heben sie vom Kreuz. Endlich wird die Menschheit von allem Kreuz und Elend erlöst werden. Wir haben das Wissen dazu. Gott hat nicht geholfen, jetzt helfen wir uns selbst.

Die Schlange wusste, womit sie die Menschen verführen konnte, nicht mit Bosheiten, sondern mit dem edelsten Wunsch, den Menschen verspüren: Die Welt zu heilen. Die Schlange verschwieg nur dies: Dass wir sterblich sind. Das Wissen darum ist unangenehm, weil es unsere Ohnmacht aufdeckt. Im Paradies des Gartens zog der Tod ein: Du sollst wieder zu Erde werden! In den Städten ließ sich Unsterblichkeit trotz Tempel und Türmen und König, Mumifizierung und gefüllter Gräber nicht einfangen. Auch unsere moderne Wissenschaft kann es nicht. Aus dem Traum der Allmacht wird der Alptraum der Ohnmacht. Unser Wissen ist Stückwerk (1. Kor. 13,9). Wer vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, muss Gut und Böse wahrnehmen.

Dunkelheit und Nichtwissen machen Angst. So haben frühere Forscher versucht, hinter die Natur zu schauen (griechisch: Metaphysik). Als das Filmen erfunden worden war, wollte ein Missionar seiner schwarzen Gemeinde in Afrika damit imponieren und filmte im Dorf. Nach Monaten kam der Film entwickelt zurück und wurde allen vorgeführt. Auf der Leinwand erschienen auch drei Dorfbewohner, die in der Zwischenzeit gestorben waren. Als die Leute das sahen, standen sie auf und schauten hinter die Leinwand. Wenn vorne etwas erscheint, das unverständlich ist, drängt es die Menschen hinter die Natur zu schauen.

Die Trennlinie läuft heute nicht zwischen Wissenschaft und Glaube, sondern zwischen falschem und rechtem Glauben. Wenn Naturwissenschaftler glauben, modernes Wissen könne Glauben ersetzen, so sind sie irrgläubig und wenn Glaubende glauben, kraft ihres Glaubens wüssten sie alles besser, dann sind sie abergläubisch. Glaube kann keine Wissenschaft ersetzen und Wissenschaft keinen Glauben. Beides steckt unauslöschlich in uns.

Glauben ist keine Erfindung der Christen, sondern eine Gabe Gottes in uns, Licht in der Dunkelheit zu suchen. Was Religion kann, ist Landkarten des Lebens zeichnen und Wege weisen. Gehen muss jeder selbst. Das Leben ist der Lehrmeister, der jedem beibringt, was sein Glaube wert ist. Unser christlicher Glaube bietet den Menschen sehr gute Landkarten und Wegweisungen an, die keiner ungeprüft wegwerfen sollte:

Erstens verknüpft unser Glaube unsere sichtbare Natur mit einem Gott und Schöpfer, obwohl ihn keiner je gesehen noch gefasst hat. Keine Macht hat es bisher geschafft, diese Verbindung aufzulösen, auch nicht die Schlange aus dem Paradies. In anderen Religionen verknüpfen die Menschen die Natur mit Geistern und Dämonen, mit schwarzer Magie und Zauberei. Einige moderne Naturwissenschaftler verknüpfen die Natur mit Sinnlosigkeit oder mit dem Bild komplizierter Maschinen. Wir glauben an einen Schöpfer.

Zweitens verknüpft unser Glaube unseren Mut und unser Vertrauen, das wir in der Dunkelheit brauchen, mit Gottes Liebe und Barmherzigkeit, und macht aus Menschenvertrauen Gottvertrauen. Heidnische Religionen verknüpfen Gott mit Angst, Blutopfern und blinden Gehorsam. Wir glauben an den Gott der Liebe.

Drittens verknüpft unser Glaube Krankheit, Leiden, Sterben mit dem Rabbi Jesus von Nazareth am Kreuz. Niemand nimmt ihn dort vom Holz ab. Seine Gegner rufen ihm zu: Hilf dir selbst und steig herab vom Kreuz! Niemand steht bei, auch Gott nicht. Mit diesem Ereignis verbinden wir die Befreiung von der Angst, auf Erden den Himmel selbst machen zu müssen. Jeder menschliche Himmel hat noch immer seine Hölle erzeugt. Gott lässt sein Reich selbst kommen. Leiden und Sterben erhalten mit dem Kreuz einen neuen Wert, sie sind nicht Siegeszeichen des Todes, sondern Wegmarken zurück zu Gott.

Viertens verknüpft unser Glaube unser Leben mit dem Heiligen Geist. Das besagt, dass aus seiner Welt, die wir nicht einsehen können, er in ihm uns immer wieder besucht, begleitet, zurechtweist, führt, tröstet und rettet. So wächst der rechte Glauben heran, schafft Wissen, lernt Hoffen, Glauben und Lieben, bis Gott unser Wissen und unser Nichtwissen verwandelt in göttliche Weisheit, so wie er auf der Hochzeit zu Kana aus Wasser Wein machte.


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