Das Böse und das Leid
Wie kann Gott das zulassen?

Ulrike Aldebert

Hans-Jochen Vogel, der Altoberbürgermeister Münchens, hat vor kurzem in einem Vortrag eine Erfahrung geschildert, bei der er sehr deutlich seine eigene Begrenztheit erfahren hat: Es war 1977, als Hans-Martin Schleyer entführt wurde und kurz darauf die Lufthansamaschine »Landshut« mit 99 Menschen an Bord von Terroristen gekidnappt wurde. Vogel war damals Justizminister und gehörte somit zum engsten Kreis der Verantwortlichen. Er mußte die Belastung mittragen, Entscheidungen treffen, die Leben oder Tod der Geiseln bedeuten konnten.

Vogel beschreibt, wie er sich in dieser Situation an Gott erinnert hat - und wie es ihm geholfen hat, die Entwicklung, nachdem alles Menschenmögliche getan war, in Gottes Hände zu legen. Er schreibt: »Dabei hat mich allerdings auch ein Gedanke beschäftigt, der wohl den meisten von Ihnen ebenfalls zu schaffen macht. Nämlich der Zweifel, warum der Herrgott, dessen Allmacht und Allwissenheit außer Zweifel steht, solche schrecklichen Dinge zuläßt. Warum der Hergott, der zu Recht auch der Allgütige, der Allerbarmer genannt wird, zuläßt, was lange Zeit und auch noch vor kurzem in Nordirland geschehen ist und derzeit wieder in Jugoslawien, oder in Zentralafrika und im Kongo geschieht. Warum hat er - wenn ich an unsere eigene Geschichte denke - zugelassen, was uns unter dem Begriff Holocaust noch weit in die Zukunft hinein immer wieder beschämen und belasten wird. Da kommt einen die Versuchung an, mit Gott zu hadern.«

Die Frage, die Hans-Jochen Vogel hier stellt, ist alt. Bereits der griechische Philosoph Epikur hat im 3. Jahrhundert vor Christus die Existenz eines Gottes bestritten, der zugleich mächtig und gut sei. Wenn Gott die Übel beseitigen wolle, es aber nicht könne, dann sei er ohnmächtig. Wenn er es könne, aber nicht wolle, sei er neidisch. Wenn er es weder wolle noch könne, sei er ohnmächtig und neidisch zugleich. Wenn er die Übel aber beseitigen wolle und zugleich könne, warum tue er es dann nicht? Gottfried Wilhelm Leibnitz prägte für diese Frage vor 300 Jahren den Begriff »Theodizee«. Selbstrechtfertigung Gottes als Gütiger und Mächtiger angesichts des Übels in der Welt. Auch in anderen Religionen wurde diese Frage immer wieder gestellt und diskutiert. Für uns Christen stellt sie aber eine besondere Herausforderung dar. Schließlich ist es eine zentrale Aussage unseres Glaubens, daß unser Gott ein Gott der Liebe sei. Im Neuen Testament heißt es sogar: »Gott ist die Liebe« (1. Joh 4,16). Diese Behauptung gerät ins Wanken, wenn wir uns Gott als Ursache für Leid und für das Böse auf der Welt denken. An einen Gott zu glauben, der zwar lieb aber ohnmächtig ist, wäre ebenso schwierig wie der Glaube an einen Allmächtigen, dem das Schicksal der Menschen letztlich egal ist. Wie also kann das Problem gelöst werden?

Im Lauf der Geschichte hat es verschiedene Versuche gegeben: Im Alten Testament schildert das Buch Hiob in krassen Worten das Schicksal eines Menschen, der unschuldig leiden muß. Die Vorstellung eines berechenbaren Gottes, der automatisch den Guten Gutes tut und die Bösen bestraft, wird damit endgültig verabschiedet. Gottes Wege, so heißt es dort, sind höher als jedes menschliche Begreifen. »Siehe, das sind nur die Enden seiner Wege, und nur ein leises Wörtlein davon haben wir vernommen. Wer will aber den Donner seiner Macht verstehen?« (Hiob 26, 14). Für den gläubigen Menschen kommt es darauf an, trotz aller unverständlichen Erfahrungen von Leid an Gott festzuhalten. Ähnlich schildern die Evangelisten die Haltung Jesu in seinem Leiden. »Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst« (Mt 26,39) betet Jesus in Gethsemane. Er unterwirft sich dem Willen eines Höheren, auch wenn dieser ihm fremd und unverständlich erscheint. Selbst in seinem schmerzhaften Sterben am Kreuz schreit Jesus ein Gebet und hält sich damit mitten im Leiden noch fest an seinen Gott: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15, 34). Die Ostergeschichten im Neuen Testament belegen die Erfahrung, daß gerade durch das Leid neues Leben ermöglicht wird. Damit erhält die Passion Christi nachträglich ihren Sinn und wird - gerade in der ersten Zeit der frühen Christenverfolgung, aber auch später - ein Trost für viele Menschen, die ein schweres Kreuz zu tragen haben.

Martin Luther kennt zwei Seiten Gottes: die abgründige, dunkle, unverständliche Seite des verborgenen Gottes - und die liebende, helle Seite des geoffenbarten Gottes. So, wie wir vom Mond nur die eine, uns zugewandte Seite betrachten und erkennen können, so sollen wir uns im Glauben an der hellen, lichten Seite Gottes orientieren und nicht über das Finstere spekulieren. Selbst im Bösen schlechthin, im Satan, könne Gott letztlich das Gute wirken. Wenn der Mensch nämlich teuflischen Versuchungen erliegt und am Guten scheitert, könne ihm dadurch bewußt werden, daß allein der Glaube ihn trägt und nichts von seinen guten Werken abhängt. Das Vertrauen auf Christus und der Glaube an Gott trugen auch Luther selbst durch Zeiten schwerer Anfechtung hindurch.

Viele Theologen haben sich seither mit der Frage der Theodizee auseinandergesetzt. Eine allgemein nachvollziehbare Theorie dazu hat freilich niemand anbieten können. Letztlich wird es sicher für jeden einzelnen Menschen darum gehen, in seinem Leben auch mit dem »dunklen«, unverständlichen Gott eigene Wege zu finden. Die Psalmen in der Bibel, in denen Gott manchmal geradezu distanzlos angeklagt, angeschrien, angefleht wird, zeigen hier einen möglichen Weg auf. Konstruktive Begegnungen mit der finsteren Seite Gottes sind aber auch in anderen Zusammenhängen denkbar: spielerisch (z.B. Bibliodrama, Musik, Tanz) oder ganz existentiell, wenn Lebenskrisen bewältigt werden müssen (Krankheit, politische Krisen, Katastrophen). Hans-Jochen Vogel schreibt dazu: »Erneut hilft mir bei dieser Problematik der Gedanke der Begrenztheit und der Endlichkeit menschlicher Einsicht. Menschliche Maßstäbe und menschliche Kriterien versagen vor Gottes Ratschlüssen, und das ist eben einer der elementaren Unterschiede bei aller Gottebenbildlichkeit des Menschen und bei voller Würdigung auch der Tatsache, daß ein Funken der Göttlichkeit in jedem Menschen zu finden ist. Es ist eben der Unterschied, daß es für den Menschen Grenzen gibt und er seine Vernunft und seine Fähigkeiten und Kriterien nicht über die Ratschlüsse des Herrgotts stellen kann.«


Zurück zur Übersicht